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Morkut und andere Erzählungen - ebook
Morkut und andere Erzählungen - ebook
Morkut heißt eigentlich Magda und hat acht Geschwister. Die Familie ist arm, und nun ist auch noch Morkuts Mutter gestorben. Immerhin darf sie nun endlich die hübschen Schuhe anziehen, die sie sich schon immer gewünscht hat…
Aleksandra Majdzińska rückt in ihren Erzählungen die kleinen Dinge und die Außenseiter in den Mittelpunkt. Sie verleiht jenen eine Stimme, die allzu oft überhört werden, und erzählt jene Geschichten, die man – nicht nur in Polen – lange allzu gern unter den Teppich gekehrt hat. Es geht um Heimat und deren Verlust, um Schuld und Scham, um Gewalt und nationale Traumata. Die oft düsteren Bilder sind eindringlich und bleiben im Gedächtnis.
Kategoria: | Literature |
Zabezpieczenie: |
Watermark
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ISBN: | 978-83-7528-281-8 |
Rozmiar pliku: | 1,2 MB |
FRAGMENT KSIĄŻKI
Die Sonne hing stur am strahlend blauen Himmel. Als würde sie das extra machen. In einem so schönen Sommer starb man doch nicht. Die Kinder waren herausgeputzt wie nie zuvor. Alle neun.
Magda trug zum ersten Mal die Lackschuhe ihrer Träume. Sie hatte sie bei den Nachbarsmädchen gesehen, den braven, zurechtgemachten Püppchen. Sie trugen immer makellose, sogar gebügelte Schleifen im Haar, und an den wohlgeformten Füßchen weiße Lackschuhe vom Onkel aus Frankreich.
„Erst nach dem Tod von Mama kann ich aussehen wie ein normaler Mensch“, dachte sie und musste lächeln, so erwachsen kam ihr der Gedanke vor.
Tante Danka hatte mal was Ähnliches gesagt. Sie hatte Mama besucht, die damals schon bettlägerig gewesen war.
Als sie deren schmutziges, bekleckertes Hemd und die gräuliche Bettwäsche bemerkte, fragte sie das Kind, das ihr am nächsten stand: „Wo sind ihre Sachen?“
Magda zog den Daumen aus dem Mund und zeigte zum Schrank im anderen Zimmer.
„Und die Bettwäsche?“
Sie zuckte mit den Schultern. Und begann wieder am Daumen zu lutschen.
„Sag Kaśka, sie soll bei mir vorbeikommen, wenn die Schule aus ist“, sagte die Tante resigniert und war schon dabei, Mama ein sauberes Hemd anzuziehen. Dann strich sie ihr noch übers Haar und sagte: „So, jetzt siehst du wieder aus wie ein normaler Mensch.“
Dann sah sie zu Magda und bemerkte: „Ach, Morkut, Morkut, so ein großes Mädchen und immer noch am Daumen lutschen. Pfui, fang mal lieber an, dich zu benehmen!“
Magda ließ schnell die Hand sinken und versteckte sie hinter dem Rücken. Aber eigentlich schämte sie sich gar nicht, ganz im Gegenteil: Sie war stolz, dass sie ihrer Tante den Schrank mit Mamas Kleidern hatte zeigen können. Obwohl, so ganz gehörten sie ja nicht mehr Mama; Magdas große Schwester Kaśka und die anderthalb Jahre jüngere Lidka trugen sie abwechselnd. Ihr selbst passten sie noch nicht, sie war zu klein. Aber irgendwann …
Im Hof stand Onkel Waldek neben dem Traktor mit dem Anhänger und unterhielt sich mit einem klein gewachsenen, buckligen Mann, der sich die Haare aus der Stirn über die Glatze gekämmt hatte.
Waldek stand breitbeinig da, stützte sich am Kotflügel ab und sagte: „Weißt du was, Wacek? Diese Krankheit. Wenn die einen trifft, dann …“ Er verstummte und kramte in der auf dem Kotflügel abgestellten Kiste herum. „Dann kommt auch die Armut. Du weißt schon.“
Wacek nickte. Von Krankheiten konnte er wirklich ein Lied singen. Man hatte ihm ganze vier Mal die Wirbelsäule punktiert, und jetzt schleppte er sich nur noch so durch die Gegend. Er schaffte es nicht mehr aufs Feld, nicht in die Kirche. Krankheiten waren nun mal, was sie waren, aber bei der Familie Sołdyk war es dann doch wieder was anderes. Aber lohnte es sich wirklich, alte Wunden aufzureißen? Was war, das war. Jetzt konnte es nur noch besser werden.
„Jetzt wird alles besser“, wiederholte Wacek diesen Gedanken und sein Blick verlor sich im verwilderten Garten.
„Natür…“, setzte Onkel Waldek an, als hätte er nicht zugehört.
Tante Danka kam aus dem Haus und mit ihr die dicke Tante Wieśka aus Darłowo. Sie hatten ein paar Decken dabei. Die schlanke Danka war daran gewöhnt, mit anzupacken, und kletterte in Windeseile auf den Anhänger. Wieśka dagegen probierte es gar nicht erst, stützte sich lediglich an der Anhängerkupplung ab und reichte Danka die Decken.
„Mal sehen, für wie viele das reichen wird“, sagte Wieśka. Sie kräuselte die Nase in der Sonne, und ihre riesigen Schneidezähne und ihr entzündetes Zahnfleisch kamen zum Vorschein.
„Waldek, sag mal, wie viele Leute passen eigentlich auf den Anhänger?“
„Na ja, auf jeden Strohballen zwei, wenn man so dünn ist wie meine Danka, oder auch nur einer, bei deiner Art von Hinterteil.“ Waldek warf einen Blick auf ihre breiten Hüften und lachte laut.
„Ach, hör doch auf!“ Sie winkte ab.
„Um die zwanzig Erwachsene und noch ein paar Kinder, wenn man zusammenrückt. Es ist ja nicht weit, nicht mal fünf Kilometer.“
Tante Danka sprang schon wieder vom Anhänger beziehungsweise von dem Wagen, mit dem die Trauergemeinde Maria Sołdyk, geborene Bielawska, auf ihrer letzten Reise begleiten würde.
Diese war ihrem Mann hierher gefolgt, um der Armut und der anstrengenden Arbeit in ihrem Elternhaus zu entgehen, hatte diese jedoch lediglich gegen Elend, Plackerei und häufige Stippvisiten im Kreißsaal eingetauscht – denn ihr Mann hatte ziemlich überbordende sexuelle Bedürfnisse.
„Maria, zerbrich dir nicht den schönen Kopf, bei uns werden die Dullars nur so regnen! Echte Dullars“, hatte ihr ihr zukünftiger Mann vollmundig versprochen.
Und Maria, die sich Geld und ein leichtes Leben wünschte, hatte sich mit den „Dullars“ ködern lassen und nun im Alter von achtunddreißig Jahren dafür mit dem Leben bezahlt.
Magda mochte es, wenn was los war. Trubel und ein gewisses Chaos waren bei so einer großen Familie normal, das war alltäglich und nichts Besonderes. Magda aber mochte besondere Ereignisse.
Wie zum Beispiel, als ihr Vater den Sohn der Kozubas beim Äpfelklauen erwischt hatte. Er hatte ihn die ganze schmale Allee entlang am Ohr hinter sich hergeschleift, war nur ab und zu stehen geblieben, um ihm ein paar zu scheuern, wenn ihm das Jammern zu laut wurde. Dann hatte er den Jungen auf einem Stuhl in der Mitte der Küche platziert, und alle Kinder hatten sich sofort um sie herum versammelt.
„Na, wirst du noch mal klauen?“, brüllte er fuchsteufelswild und thronte dabei weit über dem Jungen. Er knallte ihm noch eine.
Romek Kozuba heulte nur noch lauter.
„Was? Du wirst noch mal klauen?“
Er gab ihm ein paar so starke Schläge auf die nackten Beine, dass rote Striemen zurückblieben.
„Was, soll ich dir auch noch den nackten Hintern versohlen?“
Die Kinder grinsten verstohlen. Zu so einer Tracht Prügel sagte der Vater nicht Nein, das wussten sie nur zu gut.
„Bitte nicht!“, stammelte der Junge und sah ihn flehend an.
„Also: Wirst du noch mal klauen?“, brüllte er.
Und zog ihm eins über die Rübe.
Das ganze Theater dauerte gute fünfzehn Minuten. Dann küsste der verheulte Romek vor den Augen der Kinder dem Vater die Hand. Und rannte dann davon, so schnell ihn seine dünnen Beine trugen.
Heute war auch ein besonderer Tag, weil so viele Leute gekommen waren und sie mit dem Anhänger nach Zalesie fahren würden.
Magda strich sich das dunkelblaue Kleidchen mit der hellblauen Schleife glatt. Sie war zehn Jahre alt und trug einen Pagenschnitt. Ihr kastanienbraunes Haar hing ihr wie immer schnurgerade vom Kopf. Es hatte sich nie auch nur ein bisschen gelockt, nicht einmal, als ihre Schwester es ihr zum Geburtstag um Papilloten gewickelt hatte. Das war deren Geschenk gewesen; sie hatte sich ganze zwanzig Minuten Zeit genommen, aber am nächsten Tag war da nicht die kleinste Spur von Locken gewesen.
Magdas Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. In der Küche roch es nach Kaffee. Auf dem Küchenofen, dem einzigen richtigen Möbelstück in dem Raum, kochte Wasser in einem Aluminiumtopf. Die verblichenen orangefarbenen Bodendielen bogen sich unter Tante Dankas Füßen. Sie war dabei, den Kaffeetisch zu decken. Magda entdeckte eine neue Wachstuchdecke auf dem Tisch am Fenster. Wie anders der Tisch jetzt aussah, irgendwie feierlich! Auf allen Hockern und Schemeln saßen Verwandte. Magda kannte nur Tante Danka, Wieśka und Herrn Wacek, der ihrem Vater mit den Schafen geholfen hatte, bis Jasiu aufgetaucht war – jung und gut gebaut, mit buschigen, blonden Haaren.
Jasiu hatte sich bei ihnen auf dem Speicher ein Zimmerchen eingerichtet, blieb vom Frühling bis zum Herbst und verschwand dann wieder. Eines Tages hatte er ein braun-graues Kistchen mit auf den Hof gebracht, ein Grammofon, Marke Bambino, aus dem eine beschwingte Melodie ertönte: „_Tata się żeni, tata się_ _żeni, na tacie, bracie, trzeba się znać._“ Die Kinder hatten Spaß an dem Spottlied über einen Mann, der sich wiederverheiraten wollte, aber Vater gefiel das Lied nicht besonders. Jedes Mal, wenn Jasiu es spielte, wurde er richtig nervös und sagte, er solle was anderes auflegen.
Magda sah sich in der Küche nach Brot um, aber auf dem Tischchen am Fenster war keines. Heute war einfach alles anders. Mamas Schlafsofa war leer und eine Tagesdecke lag darüber. Der Blecheimer stand auch nicht mehr daneben, Mamas Toilette. Magda verstand noch nicht so richtig, was eigentlich passiert war. Es war alles so viel und so neu; sie dachte nicht daran, was kommen würde. Kaśka hatte zwar gesagt, sie würden in ein Kinderheim kommen, aber Magda wusste nicht, was das bedeutete. Es würde auf jeden Fall anders sein als hier, eine Abwechslung, etwas Neues.
„Kinder, geht raus“, sagte Tante Danka ungeduldig.
„Wo ist denn das Brot?“
„Das Mädchen ist wohl hungrig!“ Einer der Männer lächelte mit einer Kippe zwischen den Zähnen.
„Ich mache ein paar Brote, ich rufe dich dann.“ Eine Frau wollte ihr über den Kopf streichen, aber Magda entwischte.
„Lauf nicht so weit weg, in einer halben Stunde geht es los“, rief ihr Tante Danka nach.
Der Bus zuckelte über den heißen Asphalt und brummte monoton. Die Hitze hatte die Passagiere müde gemacht, sie dösten oder starrten aus dem Fenster auf die Landschaft. Aus dem Lautsprecher ertönte die Titelmelodie des Sommerprogramms von Polskie Radio und einen Moment später lief der Hejnał – es war zwölf Uhr mittags.
Adam blickte reflexartig auf seine Armbanduhr. „Das müsste ich noch schaffen“, dachte er. Gut, dass er den Fahrer hatte überreden können, in Kuskowo anzuhalten, obwohl er eigentlich durchfuhr. Wahrscheinlich wegen des Trauerkranzes.
Adams Blick verlor sich in den Roggenfeldern vor den Fenstern. Die Luft flirrte, so heiß war es.
Dieses Jahr würden sie erst spät ernten können. Es hatte beinahe einen ganzen Monat lang geregnet, und jetzt war das Getreide schon fast reif. Die Sonne schien zwar erst seit ein paar Tagen wieder, aber es war so heiß, als wollte sie die verlorene Zeit aufholen. Jeden Moment würden die Mähdrescher auf die Felder rausfahren.
Und an einem so schönen Augusttag war Maria gestorben. Der Krebs hatte drei Jahre in ihrem Körper gewütet, man hatte ihr erst eine, dann die zweite Brust abgenommen, aber der Krebs hatte nicht nachgegeben, neue Zellen angegriffen und ihnen das Leben entzogen – bis vorgestern. Die letzten fünf Monate hatte sie Morphium bekommen. Zunächst war noch eine Krankenschwester aus der Ambulanz gekommen, um es ihr zu spritzen, aber irgendwann hatte sie keine Lust mehr auf die Fahrerei gehabt und Rysiek einen Vorrat dagelassen, Marias Mann – diesem Irren, der wirklich zu allem fähig war. Als Adam davon erfahren hatte, war er extra nach Kuskowo gefahren und hatte Ärger gemacht. Als hätte die Krankenschwester nicht längst gewusst, dass Rysiek Mal um Mal mehr Morphium bestellte, damit Maria nicht mehr so viel jammerte. Gott weiß, was der ihr wirklich angetan hatte. Nach einem Streit mit Maria, weil er sich mit Rysiek geprügelt hatte, hatte Adam sich aus dem Leben der Sołdyks rausgehalten. Letztlich war es ja ihr Leben. Nur um die Kinder hatte es ihm leid getan. Aber man konnte nun mal nicht jeden retten.
Die von alten Bäumen gesäumte Allee führte zu ein paar Häuschen am Waldrand, die früher einmal Deutschen gehört hatten. Im Prinzip waren sie alle gleich, sahen aber ziemlich unterschiedlich aus, je nachdem, wie ihre jetzigen Besitzer mit Geld umgehen konnten. Das letzte Haus war das verwahrlosteste – dort lebten die Sołdyks. Erst zwei Jahre zuvor hatten sie eine Wasserleitung verlegt und in der Küche und im Pferdestall einen Wasserhahn eingebaut. Irgendwann hatte es dort einmal Pferde gegeben, aber von ihnen war nur der Name geblieben. Die Sołdyks hielten dort ein paar Schafe, die ihnen aber kaum etwas einbrachten. Ein Feld hatten sie auch nicht mehr. Rysiek hatte seines zu einem Spottpreis an die Gemeinde verkauft. Für ihn war es unnötiger Ballast gewesen, denn arbeiten – das würde ihm nicht mal im Traum einfallen. Das einzige, was sich bei ihm vermehrte, waren die Mäuler, die zu stopfen waren. Nun ja, was das betraf, war er durchaus fleißig.
Adam spürte wieder Wut in sich aufsteigen, als sie in die kleine, beidseitig dicht bewachsene Straße einbogen. „Kann die Büsche nicht endlich mal jemand rausreißen?“, dachte er.
Magda saß im Garten und plünderte das Erbsenbeet. Einer Schote nach der anderen zog sie das bittere Häutchen ab, um sie anschließend eifrig zu verspeisen. Plötzlich hörte sie ein Rascheln, und ihre ältere Schwester Gabryśka kam hinter den Haselnusssträuchern hervorgerannt. Sie war ganz rot im Gesicht, hatte verweinte Augen und knöpfte sich mit zitternden Händen die Bluse zu.
Als sie Magda bemerkte, fragte sie: „Was glotzt du so?“, streckte ihr die Zunge raus und lief in Richtung Pferdestall.
Magda wollte ihr nicht das letzte Wort lassen und zeigte ihr mit einer Geste, dass sie sich nicht um ihre Meinung scherte.
Da trat ihr Vater aus den Haselnusssträuchern. Er kämmte sich seelenruhig den Pony über die kahle Stelle über seiner Stirn und ließ den Blick über das wuchernde Unkraut und die nicht allzu große gejätete Fläche schweifen. Dann blieb sein Blick an Magda hängen.
„Wenn du petzt, versohle ich dir den nackten Hintern“, stellte er klar.
Magda wunderte das nicht – es wäre ja nicht das erste Mal. Was komisch war, war allerdings sein Aufzug: Er trug einen olivgrünen Anzug, der mal Jasiu gehört hatte, dem mit dem Grammofon. Wahrscheinlich hatte der ihn als Ausgleich für seine Mietschulden dagelassen.
Während sie so in Gedanken war, riss ihr Vater eine Schote ab, öffnete sie und warf ihr mit einer geübten Handbewegung die Erbsen in den Kragen ihres Kleidchens. Dann tat er so, als würde er nach den Erbsen suchen und betatschte ihre winzigen Brüste. Sie erstarrte.
„Morkut, Morkut, die Brote sind fertig!“, hörte sie Tante Danka rufen.
Rasch sprang sie auf, und ihr Vater brach in dröhnendes Lachen aus.
„Hallo, Waldek.“ Adam gab den Männern, die in der Küche saßen, der Reihe nach die Hand.
„Du hast es ja gerade noch geschafft“, sagte Tante Wieśka und lächelte.
„Passen denn die ganzen Kränze noch auf den Anhänger?“, fragte er.
„Wir legen sie einfach in den Käfig, in dem sonst die Schweine transportiert werden“, sagte Adams jüngere Schwester Wanda schnell.
„Kozłowski hat versprochen, uns auf seinem Traktor mitzunehmen“, erklärte Danka.
„Und wann kommt der Leichenwagen?“
Schweigen machte sich breit, und man warf sich betretene Blicke zu.
„Ihr habt doch wohl einen bestellt?“, fragte er halb im Spaß.
„Weißt du …“, sagte Wanda. „Rysiek wollte halt …“
„Was denn?“, unterbrach Adam sie nervös.
„Maria ist schon in der Kirche. Rysiek hat den Sarg heute Morgen selbst hingefahren. So hat er sich das eben gewünscht“, sagte Tante Danka ruhig.
„Ist das ein Wunschkonzert oder eine Beerdigung, verdammt noch mal?“ Adam wurde wütend.
„Lass gut sein, Adam“, sagte Onkel Waldek. „Das ist seine Frau, dann soll es eben so sein.“
„Er hätte ihren Sarg auf Knien nach Zalesie tragen sollen.“
Durch das gekippte Fenster war das Tuckern des Traktors zu hören.
„Zeit, zu gehen“, befand Waldek. „Ruf mal alle.“
Es war unklar, an wen seine Aufforderung gerichtet war. Aber Onkel Waldek gab eben gern Anweisungen und mochte es, anderen die Arbeit zu organisieren.
In der ziemlich geräumigen Küche von Tante Danka war es an diesem Nachmittag eng und stickig. Zwischen dem großen Tisch und den Küchenschränken saßen überall Verwandte der Sołdyks. Die Luft war zum Schneiden dick, zumal auch noch geraucht wurde. Die zwei geöffneten Lüftungsklappen oben an den Fenstern halfen wenig.
Aber immerhin bekam Magda so durch die Fliegengitter einiges mit, Gesprächsfetzen und Gläsergeklirr. Sie spielte unterm Fenster mit ihrem jüngsten Bruder Wojtek. Dort wuchsen Malven, und sie rissen die Blüten ab, um sich daraus Püppchen in Ballkleidern zu basteln. Gestern hätte Oma Polcia sie auf jeden Fall von dort verscheucht, aber heute hatte keiner mehr Nerven für so was.
Vaters Familie war zu spät zur Beerdigung gekommen. Sie waren mit ihrem eigenen Auto aus Łódź angereist. Zwei Tanten, ein Onkel und ein Kranz – so groß, dass er ganze zwei Plätze auf der Rückbank einnahm. Jetzt saßen sie allesamt in der Küche und berieten sich.
Dann und wann wurden die Stimmen lauter. Magda schnappte vereinzelt Wörter auf. Sie wollte unbedingt wissen, wie es weitergehen und wohin man sie alle schicken würde. Sie wusste, dass sie nicht hierbleiben konnten, und wusste auch, dass niemand hierbleiben wollte, weder ihre Geschwister noch sie selbst. Am liebsten wäre sie in diesem Auto irgendwo hingefahren. Sie hatte noch nie in einem Auto gesessen, war sogar zu ihrer Kommunion zu Fuß gegangen; ihr Vater hatte damals entschieden, dass die Kirche zu nah war, um sich fahren zu lassen.
„Was also? Sollen sie ins Heim? Allesamt?!“, rief Onkel Adam.
„Was für ein Heim, es hat doch niemand was von einem Heim gesagt“, sagte die Tante aus Łódź beschwichtigend.
„Hier können sie jedenfalls nicht bleiben, das weißt du doch.“
„Können sie schon“, ertönte die Stimme ihres Vaters.
„Du hast es schon mal versemmelt, von dir will ich nichts mehr hören“, entgegnete Onkel Adam.
„Das sind meine Bälger, ihr habt hier nichts zu sagen.“ Ihr Vater wurde wütend.
Erst Tante Dankas nüchterne Argumente konnten die Situation entschärfen.
„Mir ist alles egal, aber lasst uns nicht hier, bitte nicht hier“, betete Magda innerlich.
„Komm, Wojtek, wir gehen Nüsse sammeln.“ Sie stand auf und klopfte sich den gelben Blütenstaub von ihrem blauen Kleid.
Hinterm Haus von Tante Danka und Onkel Waldek war ein Hühnergehege, drumherum wuchsen Haselnusssträucher. Dieses Jahr gab es besonders viele Nüsse. Sie waren goldbraun und ließen sich leicht aus den grünen Blattkörbchen lösen. Man musste sie nur noch auf einen Stein legen, mit einem Ziegelstein draufhauen – und natürlich auf die Finger aufpassen. Magda kletterte hoch, bog die Äste in Richtung Boden, und der kleine Wojtek riss die Nüsse von den Zweigen. Mit prall gefüllten Taschen hockten sie sich anschließend neben die säuberlich gestapelten Ziegelsteine, die von beiden Seiten von Brennnesseln überwuchert wurden. Wojtek legte die Nüsse in einer Reihe auf den Boden, und Magda schlug mit dem Ziegelstein darauf.
Dann schlug eine Tür zu, und einen Moment später ging ihr Vater fluchend den kleinen Pfad entlang, der rüber zu ihrem Haus führte. Magda sah ihn mit offenem Mund an, passte einen Moment nicht auf und schlug Wojtek mit dem Ziegelstein direkt auf einen Finger. Der Kleine fing fürchterlich an zu schreien.
„Was machst du hier, verdammt? Schlägst du ihm etwa die Finger kaputt?“, brüllte ihr Vater. „Warte nur, dir werd ich’s zeigen, verdammt noch mal! Hosen runter, wird’s bald?“
„Papa!“
„Los! Was habe ich gesagt?“ Er packte Magdas Hand und riss sie an ihrem dünnen Arm nach oben. „Hörst du nicht auf deinen Vater, oder was, du kleines Flittchen? Hoch mit dem Kleid! Höher, habe ich gesagt!“, befahl er unerbittlich und fing an, mit ein paar ausgerissenen Brennnesselstängeln auf sie einzuschlagen.
Aus Magdas Schreien und Wojteks Heulen wurde ein einziges Gebrüll. Onkel Adam und Tante Danka tauchten hinter dem Haus auf.
„Hör auf, Mann! Scheiße, bist du komplett irre geworden? Hör auf!“, schrie Onkel Adam. Er kam auf sie zu, erst mit schnellen Schritten, schließlich begann er zu rennen.
Hinter ihm rief Tante Danka: „Himmelherrgott noch mal!“
Ihr Vater warf die Brennnesseln zur Seite. Er keuchte und krächzte: „Ordnung muss sein!“
Onkel Adam erwischte ihn nicht mehr und konnte ihm nur noch einen Ziegelstein hinterherwerfen.
Als die Sonne bereits dabei war, zwischen den zwei Wäldchen zu verschwinden, sah Magda Onkel Waldek und ihrer älteren Schwester hinterher, die die kleine Allee entlang zum Busbahnhof gingen. Neben ihnen die dicke Gestalt ihrer Tante, in der rechten Hand eine Plastiktüte mit den Sachen ihrer neuen Tochter. Schon vor fast drei Stunden war das Auto der Verwandten aus Łódź mit ihren anderen Geschwistern abgefahren. Wojtek hatte ihr noch mit dem verbundenen Finger vom Rücksitz aus zugewunken.
Das Wichtigste war, dass jetzt jeder von ihnen in ein neues Zuhause kam. Nur Magda würde zu Fuß gehen, es war ja nicht weit: direkt hinterm Zaun.